Das Ostbelgien-Modell: Fünf Jahre später

Im Jahr 2019 schrieb ein kleiner Teil Belgiens Geschichte, als er eine neue Form der institutionalisierten Bürgerdeliberation einführte. Fünf Jahre nach seiner Einführung reflektiert das Forscherteam, das den Prozess begleitet hat, über die aktuellen Lehren, die aus dem Ostbelgien-Modell gezogen werden.

by Pieter Velghe, Jehan Bottin, Christoph Niessen, Rebecca Gebauer, Ann-Mireille Sautter and Min Reuchamps | Jan 31, 2025

Bild von Andi Lanuza
Obwohl die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens (auch bekannt als Ostbelgien) eine relativ kleine Einheit innerhalb der belgischen institutionellen Lasagne ist, verfügt sie über diverse Gesetzgebungszuständigkeiten in einer Reihe von Bereichen, wie Gesundheit, Bildung und internationale Zusammenarbeit. Diese Einheit wurde zu einem überraschenden Laboratorium für deliberative Demokratie, als lokale Politiker beschlossen, Ideen über den Start einer “institutionellen Welle” von deliberativen Mini-Publics in die Praxis umzusetzen. Die zentrale Überlegung war, dass dies der optimale Ort und Zeitpunkt sei, um deliberative Prozesse zu erproben, zu institutionalisieren und weiterzuentwickeln.

2019 richtete das Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft erstmals einen Bürgerdialog ein, der dauerhaft an die Arbeit einer parlamentarischen Versammlung mit Gesetzgebungsbefugnissen geknüpft wurde. Der ‘permanente Bürgerdialog’, auch bekannt als das Ostbelgien-Modell (OBM), ist ein Vorläufer einer Reihe von institutionalisierten, deliberativen Mini-Publics. Das Modell besteht aus zwei verflochtenen Bürgergremien: einem Bürgerrat, der zyklisch Bürgerversammlungen einberuft, um über eine vom Bürgerrat festgelegte Fragestellung zu beraten und politische Empfehlungen zu formulieren. In den letzten fünf Jahren hat der ständige Bürgerrat sechs Bürgerversammlungen organisiert, von denen die meisten das von Parlament und Regierung vorgesehene Nachverfolgungs-Verfahren durchlaufen haben.

Unser Team an der UCLouvain war mit der wissenschaftlichen Beobachtung des OBMs betraut und hat das Projekt seit seiner Gründung begleitet. Nach fünf Jahren ziehen wir Bilanz über die gesammelten Erfahrungen und denken über die Herausforderungen und Chancen nach, denen neu-institutionalisierte, deliberative Mini-Publics gegenüberstehen.

Sobald man glaubt, dass man weiß, wie diese Prozesse ablaufen, wird man erneut überrascht und herausgefordert.

Zunächst sollte man sich nicht durch den Begriff ‘permanent’ irreführen lassen, der den Eindruck eines ‘statischen’ Prozesses erwecken könnte. Tatsächlich ist der Bürgerdialog sehr dynamisch. Obwohl die Grundlagen für einen guten Verlauf in den letzten fünf Jahren geschaffen wurden, bleibt keine Zeit, sich auf den kollektiven Lorbeeren auszuruhen. Oder, um es mit den Worten der Ständigen Sekretärin nach einer kürzlich abgeschlossenen Versammlung zu sagen: „Sobald man glaubt, dass man weiß, wie diese Prozesse ablaufen, wird man erneut überrascht und herausgefordert.”

Seit seiner Entstehung mussten Bürgerinnen und Bürger und Verwaltung sich das Verfahren weitgehend ohne Leitfaden erarbeiten. Zudem war direkt nach der Etablierung des OBM essentiell, die organisatorischen Schwierigkeiten der Corona-Pandemie während der ersten drei Durchläufe zu bewältigen. Weitere Herausforderungen waren die Änderung des Dekrets und der Legislaturwechsel 2024. Der Lernprozess ist also noch lange nicht abgeschlossen, sodass die Bezeichnung als „evolvierender” Bürgerdialog passender wäre als „permanenter”, um den wandelnden Charakter des OBM zu erfassen (und zu würdigen).

Die Entwicklung einer zunehmend strategischen Präsentation der Empfehlung durch die Bürgerinnen und Bürger bleibt jedoch eine der bemerkenswertesten Verbesserungen des Bürgerdialogs. Gerade zu Beginn des Prozesses entstanden Probleme bezüglich der Umsetzung von Empfehlungen durch das Parlament. Viele der vorgeschlagenen Empfehlungen existierten zu einem gewissen Grad bereits oder wurden durch die politischen Vertreterinnen und Vertreter als ‘zu vage’ empfunden, wodurch sie nicht in Gesetzesvorschläge oder Verordnungen einfließen konnten. Die Bürgerinnen und Bürger wurden daraufhin ermutigt, Begründungen für die Empfehlungen deutlicher auszuarbeiten, damit zumindest die “Essenz” einer Idee die gesetzgebende Arbeit beeinflussen konnte.

Auch der Bürgerrat wandelte sich: das Organ, das für die Erarbeitung einer Fragestellung und die Einberufung einer neuen Bürgerversammlung zuständig ist. Nach deren Ablauf ist er zudem mit der Nachverfolgung der Empfehlungen betraut. Da der Bürgerrat sich aus ehemaligen Mitgliedern der vorhergehenden Bürgerversammlungen zusammensetzt und ein Drittel der neuen Mitglieder nach jeder Versammlung ausgetauscht wird, dauerte es einige Zeit, bis sich ein gesunder Informationsfluss ergab. Hier ist hervorzuheben, dass die Corona-Pandemie und die dadurch unterbrochene Teilnahme am Prozess erschwerend hinzu kamen. Es ist also bemerkenswert, dass sich langsam aber sicher deliberative Normen im Rat durchsetzen.

Darüber hinaus ist der Rat auch an der Umsetzung der Empfehlungen beteiligt. Ratsmitglieder und Politiker und Politikerinnen treffen sich regelmäßig, um deren Nachverfolgung zu evaluieren. Dies geht über das ursprüngliche Dekret hinaus, das festlegt, dass der Rat schriftlich über den Umsetzungsprozess der Empfehlungen informiert werden soll. In der Praxis spielt der Rat also eine zunehmend aktive Rolle, durch die Initiierung regelmäßiger, informeller Treffen zwischen den zuständigen Ministerinnen und Ministern, den Ausschussvorsitzenden und den Mitgliedern des Rates. Infolgedessen werden Bürgerratsmitglieder mittlerweile formell zu Ausschusssitzungen eingeladen, um den Umsetzungsprozess aus nächster Nähe zu verfolgen – um so Missverständnisse vorzubeugen und über den Stand der Umsetzung zu informieren.

Der ursprüngliche Erlass des OBM wurde ebenfalls geändert, um den bisherigen Erkenntnissen Rechnung zu tragen. Beispielsweise wurde die Hürde von 100 Unterschriften, die nötig waren, um ein von der Öffentlichkeit vorgeschlagenes Thema als förderungswürdig gelten zu lassen, abgeschafft, da sie nur selten erreicht wurde. Seit der Anpassung des Dekrets kann jedes vom Publikum vorgeschlagene Thema in Betracht gezogen werden. Eine weitere Änderung besteht darin, dass pro Legislaturperiode mindestens ein Themenvorschlag vom Präsidium des Parlaments, in dem alle Fraktionen die parlamentarische Tagesordnung festlegen, im Bürgerdialog bearbeitet werden muss. Damit wurde dem Wunsch des Parlaments entsprochen, die Kommunikation zwischen ihm und den Bürgerinnen und Bürgern zu stärken und diese direkt zu Themen zu hören, die in den kommenden Monaten politische Priorität haben werden. Dies kann als eine positive Entwicklung angesehen werden, wenn es einen größeren Beitrag von Seiten der Bürgerinnen und Bürger im Vorfeld der geplanten politischen Entscheidungen ermöglicht. Gleichzeitig sollte darauf geachtet werden, wie viel Kontrolle das Parlament über die Festlegung der Fragestellung ausübt.

Weitere Änderungen wurden vorgenommen, um besser auf die Verwaltungskapazitäten des Parlaments Rücksicht zu nehmen. Zunächst war beabsichtigt, ein bis drei Versammlungen pro Jahr zu organisieren, doch aufgrund der hohen Arbeitsbelastung für sowohl die Verwaltung als auch den Rat, die Empfehlungen verschiedener Versammlungen gleichzeitig zu bearbeiten, wurde das Dekret dahingehend geändert, dass in jeder Legislaturperiode fünf Bürgerversammlungen vorgesehen sind – also etwa eine pro Jahr.

Institutionalisierte Formen der Bürgerbeteiligung stecken noch in den Kinderschuhen und ihr experimenteller und sich entwickelnder Charakter sollte stärker beachtet werden.

Permanente, deliberative Prozesse sind ein wirksames Mittel, um die Stimme, die Handlungsfähigkeit und die bürgerschaftlichen Fähigkeiten der teilnehmenden Bürgerinnen und Bürger zu fördern. Für viele weckt die Teilnahme an einer Bürgerversammlung ein Gefühl der Zugehörigkeit und der Fürsorge für die Gesellschaft, welche sie durch ihre Teilnahme und die Begegnung mit Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten in einem anderen Licht sehen lernen. Es scheint jedoch auch, dass für die meisten Menschen, die mit politischen Prozessen oder dem öffentlichen Sprechen nicht vertraut sind, eine erste Erfahrung der Teilnahme nicht immer ausreicht, um die notwendige Stimme und Handlungsfähigkeit zu entwickeln, um mehr Verantwortung innerhalb solcher Prozesse zu übernehmen.

Im Ostbelgien-Modell stechen die Agenda-/Themen-Setzungs- und Nachverfolgungsbefugnisse des Bürgerrates hervor und scheinen der Hauptantrieb der Bürgerbeteiligung am Prozess zu sein. Darüber hinaus hat die Verankerung des Prozesses in einem offiziellen Dekret, welches die Organisation verpflichtend macht, seine Existenz über die nächsten Wahlen hinaus gesichert, was in anderen institutionalisierten Bürgerdeliberationsprozessen in Belgien, wie in Brüssel oder Wallonien, nicht unbedingt der Fall zu sein scheint.

Abgesehen von dieser starken Verankerung des Ostbelgien-Modells im parlamentarischen Rahmen der deutschsprachigen Gemeinschaft haben die ersten fünf Jahre gezeigt, dass institutionalisierte Formen der Bürgerbeteiligung noch in den Kinderschuhen stecken und dass ihrem experimentellen und sich entwickelnden Charakter mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Es gibt immer ein Bestreben, diese Prozesse zu formalisieren, insbesondere wenn sie in bestehenden Institutionen eingebettet sind. Dies kann sich jedoch negativ auf die Handlungsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger auswirken, da es den Eindruck vermitteln könnte, sich strikt an bestimmte vorgegebene Grenzen halten zu müssen. Kurzum, eine wichtige Erkenntnis aus fünf Jahren Institutionalisierung in Ostbelgien ist, dass es immer genügend Zeit und Raum für Flexibilität, Lernen und Anpassung bedarf. Dies kommt nicht nur den Bürgerinnen und Bürgern zugute, sondern auch der Politik, die in einer sich wandelnden Gesellschaft und Demokratie einen Weg finden müssen, mit den sich ändernden Normen umzugehen.

Dieser Artikel ist auch auf Englisch, Französisch und Niederländisch verfügbar.

Über die Autoren

Pieter Velghe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Université catholique de Louvain (UCLouvain) und arbeitet zu den Themen partizipative Demokratie, Klima und digitaler Wandel.

Jehan Bottin ist Postdoktorand in Politikwissenschaft an der UCLouvain und arbeitet über demokratische Innovationen und partizipative Demokratie in Belgien.

Christoph Niessen ist Postdoktorand in Politikwissenschaft an der Universiteit Antwerpen und beschäftigt sich mit partizipativer Demokratie sowie Mehr-Ebenen-Staaten.

Rebecca Gebauer ist Doktorandin an der UCLouvain und beschäftigt sich mit der Analyse der internen und externen Dynamik des Permanenten Bürgerdialogs in Ostbelgien.

Ann-Mireille Sautter ist Aspirant Stipendiatin des Fonds de la Recherche Scientifique (FNRS) an der UCLouvain und der KU Leuven und arbeitet an einer Doktorarbeit über die Auswirkungen von Ethnopolitik auf das Zugehörigkeitsgefühl von Minderheiten in multinationalen Staaten.

Min Reuchamps ist Professor für Politikwissenschaft an der UCLouvain und befasst sich mit der Gestaltung und Bewertung demokratischer Prozesse im Hinblick auf ihre Institutionalisierung in Belgien und im Ausland.

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